Wer den Rund-um-sorglos-Vollkasko-Staat als Ideal anstrebt, kann es kaum erwarten, dass die FDP aus dem Bundestag fliegt. Denn es ist ihre originäre Aufgabe, Alternativen zur Regulierungswut von Rot-Grün aufzuzeigen und die CDU an marktwirtschaftliche Prinzipien zu erinnern
Die FDP kämpft – mal wieder – ums Überleben. Ihre Umfragewerte sind während der Ampel-Zeit ständig gefallen. Das von SPD und Grünen mit medialer Unterstützung zum Skandal aufgeplusterte „D-Day-Papier“ tut sein Übriges. In keiner aktuellen Umfrage der acht führenden Institute liegen die Freien Demokraten bei fünf Prozent oder gar darüber. Das Läuten des Totenglöckchens ist unüberhörbar.
Wer behauptet, es mache keinen Unterschied, ob die FDP im Bundestag vertreten ist oder nicht, scheint in den vergangenen drei Jahren weit weg gewesen zu sein. Hätten SPD und Grüne allein regieren können, wäre vieles anders gelaufen. Während der Corona-Pandemie wären die bürgerlichen Freiheiten noch weiter eingeschränkt worden, die Staatsverschuldung wäre – per Sondervermögen an der Schuldenbremse vorbei – drastisch gestiegen, der paternalistische Sozialstaat weiter ausgebaut, die Steuern für die „Reichen“ kräftig erhöht, die illegale Immigration noch weniger eingedämmt worden, die Ukraine-Hilfe noch zögerlicher erfolgt und die Staatswirtschaft mit Milliarden-Subventionen noch weiter ausgebaut worden.
Das Problem dabei: Genau diese „Errungenschaften“ der FDP haben sie in den Augen ihrer linksgrünen Gegner so unerträglich gemacht. Wer den Rund-um-sorglos-Vollkasko-Staat als Ideal anstrebt, wem sich gern betreuen lassende Menschen lieber sind als selbstständige, selbstbewusste Bürger, der kann gar nicht warten, bis die FDP den parlamentarischen Exitus erleidet. Die FDP-Wähler von 2021 – immerhin 11,5 Prozent – haben ihrer Partei hingegen nie verziehen, dass sie sich mit den zwei linken Koalitionspartnern, also mit Rot-Grün, auf vieles eingelassen hat, was den klassischen FDP-Wähler abschreckt. Darunter fällt modischer Unsinn wie die Möglichkeit zum jährlichen Wechsel des Geschlechts, die Cannabis-Freigabe oder die großzügige Vergabe von deutschen Pässen an alle, die sich eben nicht ganz für Deutschland entscheiden wollen: Zweithandy, Zweitwagen, Zweitpass.
Ein Ausscheiden der FDP könnte zu einer AfD/BSW-Sperrminorität führen
Nun ist Dankbarkeit keine politische Kategorie. Der Wähler will bei jeder Wahl neue Versprechen oder gar Verheißungen hören. Nicht das Geleistete zählt; es zählt das Erzählte. So erscheint es nicht ausgeschlossen, dass es den Freien Demokraten 2025 ergeht wie 2013, dass sie nämlich aus dem Bundestag ausscheiden müssen. Die Strategie von Linkspartei oder Freien Wählern, über drei Direktmandate unter die Reichstagskuppel zurückzukehren, ist für die FDP keine Option. Ihre Wählerschaft ist mehr oder weniger gleichmäßig übers ganze Land verteilt. Sie verfügt über keine signifikanten regionalen Schwerpunkte wie die Linke im Osten oder Aiwangers Freie Wähler in Niederbayern.
Die erste Auswirkung eines Scheiterns der FDP an der Fünf-Prozent-Hürde wäre eine rechnerische – mit weitreichenden politischen Folgen. Je weniger Parteien es in den Bundestag schaffen, umso mehr Mandate entfallen auf die Parteien mit mehr als fünf Prozent. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die sich inhaltlich teilweise sehr nahestehenden Parteien am Rand – AfD und BSW – gemeinsam auf ein Drittel aller Sitze kommen. Da könnten sie alles blockieren, was eine Zwei-Drittel-Mehrheit voraussetzt. Nun versuchen nicht wenige, das Ausscheiden der FDP aus Gründen der „politischen Hygiene“ herbeizureden oder herbeizuschreiben. Eine AfD/BSW-Sperrminorität erscheint aus deren Perspektive offenbar als das kleinere Übel.
Sollte die FDP am 23. Februar 2025 scheitern, könnte das das Ende einer bürgerlichen, marktwirtschaftlichen Partei sein. Ein neuer Christian Lindner, der wie dieser 2013 die Trümmer in mühseliger Kleinarbeit wieder zu einem ansehnlichen Ganzen zusammenfügte, ist nicht in Sicht. Zudem steht die FDP heute insgesamt viel schwächer da als 2013. Sie sitzt nur noch in neun Landesparlamenten, davon sieben Mal auf den Oppositionsbänken. Lediglich in zwei Ländern ist die FDP Regierungspartei – in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt. In den Kommunen ist die FDP ebenfalls sehr schwach vertreten. Auf dieser Basis ließe sich ein Wiederaufbau der Liberalen kaum bewältigen.
Diejenigen, die der FDP als Strafe für ihre Aufmüpfigkeit gegen vermeintlich zeitgeistigen Schnick-Schnack den Exitus wünschen und gönnen würden, begründen das mit der angeblichen Abkehr von ihren Positionen als Bürgerrechtspartei, mit ihrer vermeintlichen Verengung auf Steuersenkungen und Schuldenbremse. Das kann mit dieser Entschiedenheit nur behaupten, wer die Rolle der FDP während der Corona-Pandemie bewusst abwertet. Richtig ist aber auch, dass die bürgerlichen Freiheiten längst von allen demokratischen Parteien entschieden vertreten und verteidigt werden. Der Rechtsstaat würde nicht geschleift, wenn die FDP nicht mehr mit von der Partie wäre.
Erhards Erben sitzen heute eher in der FDP
Allerdings lässt sich nicht trennscharf zwischen bürgerlichen und wirtschaftlichen Freiheiten unterscheiden. Der alles regulierende, den Bürger betreuende und zwangsbeglückende Staat engt die Bewegungsfreiheit des Einzelnen ebenso ein wie polizeistaatliches Agieren der Behörden. Ein Staat, der von sich behauptet, er könne den Bürgern die großen Risiken des Lebens abnehmen, überschätzt sich. Wer jedes Risiko verstaatlichen will, schränkt automatisch die freie Wahl, die freie Entscheidung ein. So wird aus dem Bürger, der sein Leben selbst gestalten soll und will, ein Sozialstaatsuntertan.
Zur Freiheit gehört längst mehr, als keine Angst vor einer strengen Obrigkeit haben zu müssen. Zur Freiheit gehört auch das Recht auf Entfaltung der eigenen Talente, das Recht auf Leistung, nicht zuletzt, dass Leistung nicht diskriminiert, sondern anerkannt wird. Der politische Streit, wer ein Leistungsträger ist, ist recht kleinkariert. Niemand wird bestreiten, dass eine florierende Volkswirtschaft und eine moderne, umfassende Daseinsvorsorge nicht ohne engagierte Menschen möglich sind – und zwar auf allen Ebenen, von der Spitzenposition bis zur Hilfskraft. Aber all das pathetische Lob auf die kleinen Leute, die alles am Laufen halten, ist eben nur die halbe Wahrheit. Ohne innovative, kreative Köpfe an der Spitze – Wissenschaftler, Erfinder, Gründer, Manager – nutzt noch so viel Fleiß auf den unteren Ebenen nichts.
Zur DNA von Grünen und SPD gehört die Überzeugung, dass nichts, was Unternehmer, Manager und Selbstständige leisten, nicht auch vom Staat erledigt werden könnte. CDU und CSU hingegen verweisen stolz auf Ludwig Erhard und die soziale Marktwirtschaft als ihren Markenkern. Doch ist dieser Kern deutlich geschrumpft. Erhard hätte sich wohl nicht vorstellen können, dass die Union der SPD die Hand reichen würde zu solchen sozialpolitischen Großtaten wie gesetzlichem Mindestlohn, Mietpreisbremse, Rente mit 63, Frauenquote in Führungsgremien oder einer Steuerpolitik, die den Standort Deutschland weniger attraktiv macht. Erhards Erben sitzen heute eher in der FDP als in der Partei des „Mister Wirtschaftswunder“.
Ein Ende der FDP wäre die Stärkung von Rot-Grün
Die Freien Demokraten haben nie eine Regierung angeführt. Die Zahl der Bürger, die wirklich weniger Staat, weniger Führung und weniger Betreuung wollen, ist zu klein, um die FDP jemals zur Volkspartei werden zu lassen. Die Funktion der FDP ist die eines ständigen Mahners und Warners. Gäbe es die Liberalen nicht, hätten CDU und CSU wohl noch öfters der Neigung nachgegeben, das Soziale ganz groß zu schreiben, um als fortschrittlich zu gelten, statt als herzlose Neoliberale etikettiert zu werden. Nun hat Erhard selbst eingeräumt, im politischen Alltag könne man auch mal gezwungen sein, sich gegen den Geist der sozialen Marktwirtschaft zu versündigen. Aber, so fügte er hinzu, man müsse sich wenigstens dessen bewusst sein. Genau dieses Bewusstsein fehlt vielen in der CDU völlig.
Unter diesem Gesichtspunkt kommt der FDP die doppelte Aufgabe zu, klare Alternativen zur Regulierungswut und dem Umverteilungsdrang von Rot-Grün aufzuzeigen, und zugleich die Union ständig daran zu erinnern, dass „mehr Erhard wagen“ zwar dem Zeitgeist zu widersprechen scheint, gleichwohl unumgänglich ist. Dabei ist unverändert aktuell, was Erhard über den spendablen, großzügigen Staat sagte: „Kein Staat kann seinen Bürgern mehr geben, als er ihnen vorher abgenommen hat – und das auch noch abzüglich der Kosten einer immer mehr zum Selbstzweck ausartenden Sozialbürokratie. Es gibt keine Leistungen des Staates, die sich nicht auf Verzichte des Volkes gründen.“
Den Sozialdemokraten geht es stets mehr um die Betreuung und Versorgung der Menschen. Markt, Wettbewerb und private Initiative als tragende Elemente unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sind ihnen ebenso wie den Grünen eher suspekt. Diese Elemente wurden in der Ära Merkel ohnehin nicht gestärkt, sondern geschwächt. Die FDP konnte daran in der langen Zeit der Opposition nichts ändern. In der kurzen schwarz-gelben Regierungszeit (2009 bis 2013) gelang ihr das nur bedingt, weil Angela Merkel und ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble vor allem ein Ziel hatten: die 2009 auf 14,8 Prozent gekommenen Freien Demokraten wieder kleinzukriegen. Das ist der Union auch gelungen – für den hohen Preis von acht weiteren Jahren schwarz-roter Stagnation.
SPD und Grüne sähen es am liebsten, wenn die Freien Demokraten am 25. Februar von den Wählern zu Grabe getragen würden. In der Union sind viele gespalten. Am Wahltag auf Kosten der FDP drei oder vier Prozentpunkte dazuzugewinnen, würde den eigenen Anspruch aufs Kanzleramt befördern. Doch schon auf mittlere Sicht hätte die CDU dann nur noch zwei potenzielle Koalitionspartner – SPD und Grüne. Ein Ende der FDP hätte folglich vor allem ein Ergebnis: die Stärkung von Rot-Grün. Es wäre für alle, die das Land weiter nach links rücken wollen, der ultimative Erfolg.
Unser Gastautor
Dr. Hugo Müller-Vogg, ehemaliger F.A.Z.-Herausgeber, zählt zu den erfahrenen Beobachtern des Berliner Politikbetriebes. Als Publizist und Autor zahlreicher Bücher analysiert und kommentiert er Politik und Gesellschaft. www.hugo-mueller-vogg.de und www.facebook.com/mueller-vogg
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